Der Wandel vom (Naturalien-)Kabinett zur wissenschaftlichen Sammlung vollzog sich für die Geowissenschaften in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit reicht das Spektrum der Sammlungsbetreiber von Landesherren, über Sozietäten, Bergbeamte, Universitätsangehörige bis hin zu privaten Akteuren unterschiedlichster Professionen. Nicht alle verfolgten gleichermaßen (geo-)wissenschaftliche Intentionen: Forschungsaktivitäten sind insbesondere außerhalb der Universitäten für private Akteure auszumachen, die mit ihren regionalen Geländeforschungen und Sammlungen zu überregionalen Experten avancierten. Zugleich waren private, universitäre und bergakademische Akteure europaweit durch Korrespondenzen und Forschungsgesellschaften vernetzt. Hinzu kommt, dass Sammlungsbetreiber auf Reisen nicht selten auch ‚Sammlungsbesichtiger‘ waren, die auf ihren Reisen breit gefächerte Kenntnisse über Objekte, fachspezifische Intentionen, Sammlungsstrukturen und Praktiken erwarben und verbreiteten. Gemeinsames Ziel und durchaus auch Effekt dieser hybrid zusammengesetzten Wissenschaftsgemeinschaft war es, Wissen zusammenzuführen, allgemein gültige Theorien abzuleiten oder zu modifizieren und eine gemeinsame Fachsprache zu entwickeln.
Anliegen der Tagung „Sammlungen mit Nutzen betrachten. Akteure geowissenschaftlicher Sammlungen um 1800 und ihre epistemischen Praktiken“ ist es, die Bedeutung (privater) Sammlungen wie auch Sammlungsbesichtigungen als Konstellation bestimmter epistemischer Praktiken für diese frühe Phase der Geowissenschaften näher zu beleuchten.
Die Tagung ist in drei Sektionen gegliedert:
(1) Sammlungen als Orte der Herausbildung fachspezifischen Wissens
In den Beiträgen dieser Sektion soll die Diversität geowissenschaftlicher Sammlungen sowohl im Hinblick auf die Fachspezifik als auch auf die Methodik anhand unterschiedlicher Sammlungsbeispiele diskutiert werden. Zentral für diesen vergleichenden Zugriff sind die epistemischen Fragestellungen der unterschiedlichen Sammlungsbetreiber sowie die daran geknüpften Sammlungs- und Forschungspraktiken. Inwiefern bestimmten z. B. die geospezifischen Forschungsfragen die Struktur einer jeweiligen Sammlung? Wo gelangten publizierte Systematiken zum Durchbruch und wo wurden individuelle Sammlungsstrukturen entwickelt? Welche Rolle spielten Geländeuntersuchungen und können diese für eine bestimmte Kategorie von Sammlungsbetreibern verstärkt beobachtet werden?
Zwei Aspekte sind dabei von besonderem Interesse: Zum einen interessiert uns, welche Wissensgebiete sich in den Sammlungen materialisierten und inwiefern diese im Kontext der Regionalspezifik des Forschungsgegenstandes standen. Zum andern und damit verknüpft stellt sich die Frage, ob und welche inner- bzw. interdisziplinären Spezialisierungen sich jeweils fassen lassen.
Ziel der gemeinsamen Diskussion in dieser Sektion ist es, den Handlungsraum Sammlung als Ort der Herstellung und Verfestigung wissenschaftlichen Wissens und fachspezifischer Methoden im Kontext der geowissenschaftlichen Forschung im späten 18. Jahrhundert differenziert zu beschreiben. Hierfür wäre es besonders interessant, wenn die Beiträge selbst bereits vergleichend angelegt sind bzw. der Versuch unternommen wird, das vorgestellte Sammlungsbeispiel bzw. den vorgestellten Sammlungsbetreiber vergleichend einzuordnen.
(2) Sammlungsbesichtigung als wissenschaftliche Praktik
In der zweiten Sektion stehen Sammlungsbesichtigungen mit ihren heterogenen Formen der Transaktion von Wissen und die Bedeutung von Sammlungsbesichtigungen für die kollaborative Produktion, Distribution und Rezeption von Wissen im Mittelpunkt. Anliegen der Sektion ist es, Wissen über Sammlungsbesichtigungen und ‚Sammlungsbesichtiger‘ zusammenzutragen:
(1) Mit Blick auf die Besucher von Sammlungen stellt sich dabei sehr grundsätzlich die Frage, welche geowissenschaftlichen Akteure eigentlich (welche) Sammlungen besichtigten. Lässt sich z.B. beobachten, dass Akteure mit besonderen fachspezifischen Intensionen vermehrt bestimmte Typen von Sammlungen besichtigten?
(2) Aus der Perspektive des Ereignisses ‚Sammlungsbesichtigung‘ gilt es zu fragen: Wer führte durch die Sammlungen? Wer war darüber hinaus anwesend? Worüber tauschte man sich aus? Lassen sich gemeinsame Debatten zu konkreten Objekten, bestimmten Objektgruppen, geologischen Themen oder auch Theorien ausmachen? Begegneten sich die Akteure innerhalb der sich sukzessive formierenden Wissenschaftsgemeinschaft auf Augenhöhe? Kann etwa für einzelne Akteure beobachtet werden, welchen Beitrag Sammlungsbesichtigungen (mit dem Potential eines mündlichen Austauschs am Objekt) für den Wissenstransfer lieferten? Im Kontext von Sammlungsbesichtigungen rückt (3) die Quellengruppe der wissenschaftlichen (Reise)Tagebücher in den Mittelpunkt. Für diese Form der Auszeichnung soll daher übergreifend die Frage gestellt werden, ob sich in den Texten für Sammlungsbesichtigungen bestimmte Beschreibungsformen und Aufzeichnungspraktiken beobachten lassen.
Ziel der Beiträge und Diskussionen in dieser Sektion ist es, Sammlungsbesichtigungen als wissenschaftliche Praktik in ihrer epistemischen Bedeutung genauer zu bestimmen und ihren Stellenwert für die Geowissenschaften im späten 18. Jahrhundert zu bemessen.
(3) Sammlungen neu ‚besichtigen‘
In einem dritten Block soll schließlich gemeinsam diskutiert werden, wie historische Sammlungen als Begegnungsorte erschlossen und auf neue Weise zugänglich gemacht werden können. Im Mittelpunkt dieser Sektion steht die Vorstellung entsprechender Initiativen und die Diskussion der Frage, welche Herausforderungen und Möglichkeiten einer (wissenschaftlichen) Nutzung sich ausmachen lassen. Dabei ist es uns ein besonderes Anliegen, neben den geradezu ‚klassischen‘ auch bislang von der Forschung weniger berücksichtigte Sammlungen dezentraler Einrichtungen einzubeziehen, um die historisch gegebene Vielschichtigkeit wissenschaftlicher Sammlungen in ihrer heutigen ausgesprochen unterschiedlichen institutionellen Verankerung in den Blick zu rücken. Aus der Perspektive zurückliegender Forschungsansätze (in ihrer eher auf die ‚klassischen‘/großen (Institutions-)Sammlungen konzentrierten Bezugnahme), soll der Blick hier auf das Potential dieser Integration für eine dichter verflochtene wissens- und wissenschaftsgeschichtliche Forschung sowie auch für aktuelle naturwissenschaftliche bzw. museologische Nutzungen gerichtet werden.
Die Tagung ist Teil des am Historischen Seminar der WWU Münster verankerten DFG-Projekts „Sammlungsbesichtigung als epistemische Praktik in der Scientific Community der Geowissenschaften zwischen 1765 und 1807“, das an der Schnittstelle von Geschichts- und Geowissenschaften angesiedelt ist. In Kooperation mit den Görlitzer Sammlungen für Geschichte und Kultur findet die Tagung vom 3. bis 4. November 2022 in Görlitz (Barockhaus, Neißstrasse 30) statt.