Mit der Popularität der sozialen Medien ist auch das ‚soziale Lesen‘ von Literatur in den vergangenen 10 Jahren in den Fokus der Aufmerksamkeit getreten. Schon seit den späten 1990er Jahren, so der amerikanische Kulturwissenschaftler Jim Collins (2010), wird Literatur in einer ganz neuen Medienökologie gelesen: sie ist geprägt von neuen Vertriebswegen und - formen für literarische Werke, von Fernsehshows wie Oprah’s Book Club und Plattformen wie Goodreads, Youtube und Instagram. Collins und andere konstatieren nicht nur in den USA einen Bruch mit der bildungsbürgerlichen Kultur des individuellen Lesens: Lesegemeinschaften, die gerade ihre nichtakademische Prägung als Identifikationsmerkmal verwenden. Als zweites Merkmal der Lesekultur in digitalen Umgebungen gilt ihre Einbettung in eine social media-geprägte Lifestylekultur: Leseszenen werden auf Instagram geteilt, Bücher auf Youtube rezensiert und Bücher zu Einrichtungsaccessoires erklärt. Literarisches Schreiben passt sich in ihren Themen und Ästhetiken dieser neuen, ‚nachbürgerlichen‘ Umgebung und ihren Vermarktungsinteressen an.
Mein Beitrag skizziert diese Entwicklung (u.a. am Beispiel meines Forschungsprojekts zu Lesegemeinschaften um anglophone Langromane), um im historischen Rückblick die Frage aufzuwerfen, ob sich Lesekulturen tatsächlich so tiefgreifend verändert haben wie angenommen. Als Hypothese formuliere ich, dass sich eher die theoretische Wahrnehmung und die kulturelle Sichtbarkeit von Lesegemeinschaften und Vergemeinschaftungsprozessen durch Lesen verändert hat.
Bio
Nicola Glaubitz ist Anglistin und hat an den Universitäten Siegen, Darmstadt und Frankfurt sowie am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen in den Bereichen Anglistik, Medienwissenschaft und Digital Philology geforscht und gelehrt. Sie ist seit 2018 Professorin für Englische Literaturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Forschungsprojekt im DFG-Schwerpunktprogramm Ästhetische Eigenzeiten (SPP 1688) mit Julika Griem; Titel: „Eigenzeit und Lesegemeinschaften: Zeitstrukturierung durch Langromane von den 1970er Jahren bis heute“ (2016-2019), Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte der anglophonen Literatur, Medienästhetik, Literatur und Visualität, Diskursgeschichte und Wissenspoetik.